Einladung zum Treffen und Bericht von der Aktion „Sergio Moro ist nicht Willkommen!“

Am 22. März haben wir gemeinsam mit der AG Antifaschismus und mit Aktivist:innen aus Brasilien eine Kundgebung gegen den Wahlkampfauftritt des brasilianischen Präsidentschaftskandidaten Sergio Moro organisiert. Er war vom Lateinamerika-Verein e.V. in die Bucerius Law School eingeladen. Der Anschein des „Unpolitischen“ dieser Veranstaltung ist durch unsere Aktion mit kritischen Reden, einfallsreichen Plakaten und guter, progressiver Musik öffentlich entzaubert worden und aus dem glänzenden Auftritt wurde ein peinliches Hinterzimmer-Gespräch.

Wir laden alle, die sich in der antifaschistischen Brasilien-Solidarität engagieren wollen:

Treffen der AG Brasilien

am 24. März 2020

um 16 Uhr

im „Syntagma“ (Von-Melle-Park 5; neben dem HASPA-Café)


Hier dokumentieren wir die Reden, die am 22.3. vor der Bucerius Law School gehalten wurden:

Rede von Lucas Ribeiro (AG Brasilien an der Uni Hamburg)

Progressive Welle in Lateinamerika

Hallo!

Die offenen Adern Lateinamerikas sind immer noch geöffnet.

Wir kennen die Geschichte, die sich hier heute in der Bucerius Law School abspielt: Ein reicher brasilianischer Händler kommt ins kapitalistische Zentrum, um Geschäfte zu machen und die Zukunft unserer brasilianischen Wirtschaft zu „diskutieren“. Selbstverständlich werden Menschen und Ressourcen als Waren veranschlagt, und sobald es mit den Zahlen und Profiten gut aussieht, wird es ein gutes Geschäft.

Seit der brasilianischen Diktatur steigt daraus folgend die Abhängigkeit durch Schulden, Privatisierungen und durch jede Art von dreckigen Verträgen zwischen transnationalen Konzernen. Die Veranstaltung heute ist eine weitere Episode dieses reaktionären Teils der Geschichte.

Es gibt aber auch den anderen Teil der Geschichte. Sergio Moro ist ein Element in einer politischen Re-aktion gegen eine progressive Welle in Brasilien, die sich bereits in den 16 Jahre der Regierung der Arbeitspartei ausdrückte.

Seit 2013 wächst außerdem die außerparlamentarische Opposition in Brasilien und allgemein in vielen Lateinamerikanischen Ländern, bspw. in Chile, wo 2019 mit der sozialen Revolte ein anti-neoliberaler Verfassungsprozess angestoßen und die jetzige Regierung ermöglicht wurde. In Brasilien ist die Mitgliedschaft in linken Parteien in den letzten Jahren gewachsen. Und trotz der Entpolitisierung sind traditionelle Basisbewegungen wie die Bewegung der Landlosen oder die Obdachlosebewegung stärker geworden.

Die zurückliegenden sechs Jahre der neoliberalen Conter-Reformen sind zwar unbestreitbar eine riesige soziale Regression. Bolsonaros Aufstieg in die Regierung zeigt uns aber auch, dass jede Art von Krisenverwaltung oder Klientelismus nicht reicht, um strukturelle und dauerhafte Reformen zu verwirklichen, um die Konservativen und reaktionären Kräfte zu bekämpfen und um eine sozialistische Alternative aufzubauen. Dafür sind nur wir, der größte Teil der Bevölkerung, zuständig.

Die Umfragen für die baldige Präsidentschaftswahl in Brasilien zeigen aktuell ungefähr 45% der Stimmen für die Arbeitspartei, aber ob das eine soziale Wende bedeutet oder die Weiterführung der neoliberalen Politik, hängt nicht von den Wahlen ab, sondern hängt von uns ab!

Aktion „Sergio Moro ist nicht Willkommen!“ 22.03.2022

Rede von Golnar Sepehrnia (Referat für internationale Studierende; AStA der Uni Hamburg)

Deutsch-brasilianische Wirtschaftsbeziehungen
und was die mit Recht und Gerechtigkeit (nicht) zu tun hat

Liebe Mitstreitende, liebe Zuhörende!

Das Referat für internationale Studierende, für das ich spreche, ist die Interessenvertretung der internationalen Studierenden an der Universität Hamburg. Wir kommen aus verschiedenen Ländern und Kontinenten und sind gleich in dem Willen für globale Gerechtigkeit und Frieden zu kämpfen. Wir wollen internationale Solidarität in den Hochschulen und Universitäten, in den Mentalitäten und Ambitionen, als allgemeine Haltung verankern.

Wir haben deshalb auch mit der AG Antifa der Uni Hamburg eine AG Brasilien gegründet. Wir sehen uns verantwortlich, den Kampf für globale Progression und einen weltweit gerechten Frieden gerade dort solidarisch zu stärken, wo die Reaktion – wie in Brasilien – ihre Herrschaft in Verbindung mit deutschen Wirtschaftsinteressen aggressiv verteidigt.

Also: Was ist der Charakter der deutsch-brasilianischen Wirtschaftsbeziehungen?

Der Bund Deutscher Industrieller beschreibt es so:

„Heute sind in Brasilien ca. 1.600 deutsche Unternehmen aktiv. Sie erwirtschaften ca. zehn Prozent der industriellen Wertschöpfung Brasiliens. Allein in São Paulo befinden sich über 800 deutsche Unternehmen, die mehr als 250.000 Arbeitsplätze geschaffen haben.“

In und um Sao Paulo befindet sich das größte deutsche Industriezentrum außerhalb Deutschlands, nur geringfügig kleiner als das Ruhrgebiet.

Das ist keine Wohltat.

Das Wirtschaftsmodell beruht auf dem Raubbau von Rohstoffen, die weitgehend unveredelt aus dem Land gebracht werden – es begann mit Kautschuk und Kaffee, ging über Uran und setzt sich bis heute mit Eisenerz und anderen Rohstoffen fort.

Brasilien verfügt nach China weltweit über die zweitgrößten nicht-energetischen Rohstoffvorkommen. Das ist für deutsche Konzerne attraktiv.

Es ist zugleich ein riesiger Markt für Autos, Werkzeugmaschinen, Pestizide und andere hochveredelte Güter aus Deutschland. Das ist chic.

Brasilien ist deshalb eines von nur acht strategischen Partnerländern der Bundesrepublik.

Es ist ein zutiefst ungleiches Verhältnis, dass auf Ausplünderung von Menschen und Umwelt basiert, Brasilien strukturell in Unterentwicklung hält und hier gleichfalls eine verschwenderische und nicht nachhaltig reproduzierbare, demokratiefeindliche Wirtschaftsweise konstituiert – zum Vorteil der Eliten in beiden Ländern.

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Das hat eine Geschichte, die mit der Deutschen Reichsgründung beginnt.
Durch die Einigungskriege befördert stieg die deutsche Rüstungsindustrie auf und verkaufte ab 1871 Waffen, zunächst Krupps Kanonen, nach Brasilien.

In den 1950er Jahren hofften westdeutsche Energiekonzerne und rechte Politiker durch Uranabbau in und Technologietransfer nach Brasilien zur eigenen Atombombe zu gelangen. Dies wurde durch britische Geheimdienste und durch die Friedensbewegung vereitelt. Dennoch erwuchs aus diesen Bemühungen eine intensive Wirtschaftsbeziehung. Deutsche Energiekonzerne, allen voran Siemens, lieferten Zentrifugen und andere hochentwickelte Technologien für Atomkraftwerke.

Auch Kleinwaffen werden nach Brasilien exportiert – durch den Hamburger Hafen! – und kommen bis jetzt u.a. durch die Militärpolizei bei der Bekämpfung der starken brasilianischen Oppositionsbewegungen, der Indigenen, der Landlosen, der Arbeiter:innenn, der Bewohner:innen der Favelas und der LGBTQ* zum Einsatz.

Deutschland ist ein Autoland. VW nutzte bereits zu Zeiten der brasilianischen Militärdiktatur die durch die Repression der Arbeiterbewegung gestiegenen Gewinnmargen und die Steuerfreiheit für Riesengeschäfte und hat sich fest in der brasilianischen Wirtschaft eingenistet. Manager des Konzerns waren nachweislich indirekt beteiligt an der Bekämpfung der Gewerkschaften, die mit Verrat, Verschleppung und Folter betrieben wurde.

Heute werden 30% des deutschen Bedarfs an Zellulose aus Brasilien gedeckt. Bayer und BASF exportieren und produzieren für den brasilianischen Markt Pestizide, die in der EU verboten sind. Immer zynischer wird die agrarische Ausbeutung, die dem deutschen Markt vor allem Soja und Rindfleisch zuführt und verantwortlich ist für die gewaltsame Landnahme von Konzernen gegen indigene Gesellschaften und natürliche Lebensräume – besonders im brasilianischen Amazonasgebiet.

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Doch es gibt auch die andere Seite, den immer wachsenden Widerstand gegen diese Ungerechtigkeit, die internationale Solidarität der Kämpfenden. Sei es die Friedensbewegung hier, die mit der Kampagne „Rüstungsexporte stoppen“ und mit der Initiative kritischer Aktionär:innen die miesen Geschäfte ans Licht bringt und einen Strich durch die ungerechte Rechnung zu ziehen bereit ist.

Sei es die gewerkschaftliche Solidarität, die gegen die Repression der Arbeiterklasse gemeinsam kämpft wie beispielhaft zu Zeiten der Militärdiktatur.

Oder wir jetzt hier, die wir die ziemlich schändliche Hofierung eines extrem Rechten Politikers und Juristen, von Sergio Moro, hier an der Bucerius Law School anprangern.

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Als studentische Aktivistin will ich in diesem Zusammenhang etwas über die Rolle der Rechtswissenschaften und der Rechte sagen.

Sergio Moro ist ein erfolgreicher Jurist. Er studierte ab 1995 strebsam Rechtswissenschaft; wurde 1998 Fellow der Harvard Law School in einem vom US-Außenministerium geförderten Programm über Geldwäsche.

Er promovierte 2002 in Paraná und wurde Rechtsgelehrter und Bundesrichter.

Als solcher arbeitete er fleißig an seinem Image als gerechter Bekämpfer von Steuerhinterziehung, Korruption und Geldwäsche.

Sergio Moro ist ein ehrenwerter Mann.

Er hat vor allem gegen die Arbeitspartei ermittelt und aktiv den Parlamentsputsch gegen die linke Präsidentin Dilma Rousseff vorbereitet sowie in einem – mittlerweile international geächteten und als rechtwidrig erkannten Verfahren, dessen Urteil aufgehoben wurde – den Sozialdemokraten Lula da Silva hinter Gitter gebracht, um dessen erfolgversprechende erneute Präsidentschaftskandidatur 2019 zu verunmöglichen. Moro diente anfangs auch dem Faschisten Bolsonaro als Justizminister.

Sergio Moro, ein ehrenwerter Mann, hat sich also um die marktkonforme Demokratie, den Freihandel und die Freiheit des Kapitals von den störenden Einwirkungen der kämpfenden Arbeiterklasse und insgesamt der Linken verdient gemacht.

Nun will er Präsident werden. Hier und heute, in der Bucerius Law School, ist er auf Wahlkampftour. Für das deutsche Kapital und die herrschende Politik ist er interessant, weil er durch seine Ausbildung und seinen Werdegang als scheinbar zivilisiertere Alternative zu Bolsonaro gelten könnte.

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Dies ist heute von höchster politischer Bedeutung. Das ZDF und die Frankfurter Allgemeine Zeitung melden gerade, dass angesichts der Rohstoffengpässe durch den NATO-Russland-Konflikt, der blutig in der Ukraine ausgetragen wird, das eigentlich schon auf Eis gelegte Freihandelsabkommen zwischen EU und Mercosur, dem südamerikanischen Handelsraum, wiederbelebt werden soll. Dieses äußerst ungerechte Handelsabkommen war an dem Widerstand sowohl der lateinamerikanischen und besonders der brasilianischen Zivilgesellschaft wie auch an den massiven Protesten von uns und Leuten wie uns in der EU gescheitert. Millionen Menschen haben dagegen aufgeklärt, unterschrieben, blockiert, besetzt, protestiert, denn es würde den beschriebenen Extraktivismus und die irreparable Zerstörung unserer Lebensgrundlagen verschärfen. Die europäische Politik steht enorm unter Druck, gemessen an den Umwelt- und Arbeitsrechtsstandards der Vereinten Nationen gerechte und nachhaltige, Handelsbeziehungen aufzubauen.

Das zeigt, wie sehr wir als Internationalist:innen gefragt sind, die Konflikte in dieser Welt zusammenzudenken, über die Zusammenhänge aufzuklären und den Krieg, die marktwirtschaftliche Konkurrenz, die imperiale Immer-wieder-Neuaufteilung der Welt, die Ungleichheit mit einer permanenten Entwicklung der Solidarität und Befreiung von Profitgesetzen zu überwinden.

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Warum fordert uns das als Studierende und Bürger:innen hier besonders?

Weil durch unseren gemeinsamen Kampf aus Recht Gerechtigkeit werden muss, anstatt dass das Recht immer neue Ungerechtigkeit legitimiert.

Es geht darum, das Völkerrecht, das Internationale Arbeitsrecht, die Menschenrechte und das Umweltrecht in einem transnationalen Kampf für echte Demokratie gegen das unbegrenzte und jede Kriminalität deckende Recht auf Privateigentum, auf freien Kapitalverkehr und nahezu unbegrenzte Ausbeutung durchzusetzen.

Das private Eigentum scheint – in der Praxis – eine Grundnorm des Rechts zu sein – nicht die Würde des Menschen.

Für Menschen wie Moro ist das Recht eine Waffe, um uns alle zu enteignen – von unserer Arbeit, unseren Lebensgrundlagen und unserer Zukunft.

Für Millionen Aktivist:innen in Brasilien und in der ganzen Welt ist aber das Recht – und zwar das unteilbare Menschenrecht – Ausdruck, erweiterte Basis und eine heiß geschmiedete Waffe im Kampf für eine bessere Welt.

So sind exemplarisch die derzeitigen Gerichtverfahren zur Aufklärung und zur Erzwingung von Schadenersatz in Bezug auf den Dammbruch in Buradinho, an dem das deutsch Unternehmen TÜV Süd maßgeblich mitschuldig war und bei dem 272 Menschen starben, beispielhaft dafür, wie Menschen mit Aufklärung, Solidarität und hartnäckiger juristischer Kampfkraft nicht nur Gerechtigkeit und Schadensersatz erzwingen, sondern korrupte und zerstörerische globale Handelsbeziehungen aufdecken, um eine neue, gerechtere Weltordnung durchzusetzen.

Welches Statement gibt also die ehrenwerte, liberale, private und studiengebührenpflichtige Bucerius Law School ab, wenn sie den Arbeiterfeind und extremen Rechten Sergio Moro hier gewähren läßt?

Wir rufen alle Kommiliton:innen und Wissenschaftler:innen auf, Recht als Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit als Humanität zur Geltung zu bringen und dem Gebrauch des Rechts als Instrument der Unterdrückung ein Ende zu setzen.

Die Wissenschaften haben eine globale Verantwortung. Sie lässt sich aus dem ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen.“

Wer diese Aussage teilt, muss das Unrecht bekämpfen – gerade, wenn es in der Robe des Richters, in den Phrasen von ungleichen Verträgen und in den Paragraphen von Gesetzen auftritt.

Dieser Kampf für Bildung und Wissenschaft, die die Solidarität der internationalen Menschheit stärken und zur Geltung bringen, ist eine unserer Möglichkeiten hier, solidarisch mit unseren Gefährt:innen in allen Ländern der Welt die Macht der Eliten zu brechen und eine wirkliche, eine lebendige, eine soziale und egalitäre, eine vielfältige und nach innen wie nach außen friedliche Demokratie zu verwirklichen.

Hoch die internationale Solidarität!

Aktion „Sergio Moro ist nicht Willkommen!“ 22.03.2022

Lene Greve (AG Antifaschismus und AG Brasilien an der UHH)

Die Rohheit (Bolsonaro, AfD) kommt von den Geschäftemachern (LAV).
Wie bringen wir dagegen die Vernunft in die Welt?

Rassismus und Exotisierung

1974, während der Militärdiktatur: „Ich bin überzeugt, dass Brasilien vom politischen Gesichtspunkt aus sicherlich das stabilste Land in ganz Lateinamerika ist. Die Tatsache, dass hier in Europa gelegentlich Kritik gegenüber dem System laut wird, beruht sicherlich darauf, dass man hier nicht die nötige Einsicht und Kenntnis über das Land besitzt. Ich bin der Auffassung, dass diese Stabilität mit dazu beiträgt, dem Land die unabdingbare und notwendige wirtschaftliche Basis zu verschaffen. Dies ist wohl das vordringliche und vorrangige Ziel.“ (…) „Der Brasilianer besitzt eine andere Mentalität als der Deutsche und Europäer. Er nennt eine glückliche Mentalität sein eigen (…). Er ist nicht neidisch und mit seinem Los zufrieden (…).“
(Rudolf Leidig, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG, in den Deutsch-Brasilianischen Heften)

Nach der rassistischen Logik, dass die Brasilianer die Militärdiktatur gebraucht hätten, könnten sie genauso gut 2018 einen Faschisten zum Präsidenten gewählt haben, weil sie etwas rückständig seien.

Was steckt dahinter?

Rassismus und Biologisierung dienen der plumpen Rechtfertigung der unmenschlichen Ausbeutung – auch gegenüber der deutschen Bevölkerung. Der Rassismus soll spalten, indem er verschleiert, dass wir dieselbe Verfügungslosigkeit zum Feind haben.

Der Rassismus, der 1974 den Ausverkauf Brasiliens an deutsche Unternehmer rechtfertigen sollte, ist heute in dieser Form nicht mehr salonfähig. Orlando Baquero, Hauptgeschäftsführer des Hamburger Lateinamerika Vereins, drückte sich im Januar 2019 subtiler aus:

„Die Ankündigungen, unter anderem die Korruption zu bekämpfen, die Bürokratie einzudämmen und die Steuerkomplexität zu reduzieren, sind auch für ausländische Investoren willkommene Maßnahmen, da die Transaktionskosten, um in Brasilien wirtschaftlich tätig zu sein, somit deutlich reduziert werden“ (…) „Die geplante Privatisierung von Staatsunternehmen und die Vergabe von Transportinfrastrukturprojekten in privater Hand sind interessante Vorhaben, von denen die deutsche Wirtschaft gut profitieren kann.“

Es bleibt die Mystifizierung: Sind die Brasilianer einfach so korrupt und brauchen einen Möchtegern-Diktator wie Bolsonaro, der für „Ordnung“ sorgt? Warum sind eigentlich die Profite der deutschen Wirtschaft Maßstab bei der Beurteilung des Regierungshandelns in Brasilien? Wer ist diese deutsche Wirtschaft, die solchen Unsinn treibt?

Fragen wir beim deutschen Staat nach: Was tut der dagegen, dass man uns und die brasilianische Bevölkerung so an der Nase herumführt?

Die in Staatsbesitz befindliche „Germany Trade and Invest – Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing mbH“, die dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz unterseht, meldete sich im April 2019 unter dem Titel „Brasilien wartet auf die Rentenreform“ zu Wort. Thema war die Rentendeform von Bolsonaro und seinem Wirtschaftsminister, die im selben Jahr gegen Proteste eines breiten Bündnisses aus Gewerkschaften und Studierenden durchgesetzt wurde. Sie verunmöglicht zukünftig den Zugang zur staatlichen Rentenversorgung für die prekären informell Beschäftigten. Die GTAI drückt angesichts der „komplizierten Mehrheitsbildung im Kongress“ ihre „Sorge“ um die brasilianische Wirtschaft aus, diese würde ohne die Rentenreform stocken. Auch die GTAI frohlockt über die guten Aussichten deutscher Unternehmen, „sich stärker in Brasilien zu engagieren“, unter anderem durch Maschinenexporte.

Unser Staat braucht Nachhilfe in puncto Demokratie! Vielleicht geht das so:

Bei der Berufung auf die „entwickeltere“ deutsche Demokratie (und Wirtschaft) schmücken sich die Damen und Herren vom Lateinamerika-Verein mit fremden Federn.

In Deutschland gibt es verhältnismäßig mehr soziale Rechte. Die Begrenzung von Arbeitszeiten, die längere Rentendauer, der Anspruch auf freie Wochenenden und Urlaub, ein geringerer Anteil von informellen Beschäftigungsverhältnissen sind gut. Auch die grundsätzliche Rechtsstaatlichkeit ist eine Errungenschaft.

Wir verdanken diese Möglichkeiten nicht einer biologischen Überlegenheit und Tugendhaftigkeit, wie der vielgerühmten deutschen Effizienz, sondern der Geschichte: Die in einer gemeinsamen Anstrengung der weltweiten progressiven Kräfte errungene Befreiung von 1945 und daraus folgende relative Stärke der Gewerkschaften haben sie ermöglicht.

Dass diese Rechte auch hier ständig umkämpft sind, liegt nicht daran, dass wir andere Länder – wie Brasilien – stärker ausbeuten müssen. Corona-Arbeitsschutz-Aufweichungen oder die von der Ampel-Koalition in Berlin geplanten Spekulation mit Rentenbeiträgen zeigen vielmehr an, dass wir die nicht voll verwirklichten Konsequenzen aus der Befreiung um so stärker zu verwirklichen haben: Bereits im Potsdamer Abkommen ist der Maßstab einer Demokratisierung der deutschen Wirtschaft gefasst. Selbst in den USA war dieses Denken zu der Zeit möglich: Henry Wallace, Vizepräsident unter Roosevelt, warb 1944 für eine Ausweitung der politischen Demokratie zur Wirtschaftsdemokratie „unabhängig von der Rasse“.

Lernen von Brasilien: kulturelle Emanzipation

Vor allem zwischen 1961 und 1964 unter der progressiven Regierung Joao Goularts wirkte die Alphabetisierungskampagne von Paulo Freire, in der Zehntausende innerhalb von Monaten Lesen lernten. Dabei ging es unmittelbar um das an die Alphabetisierung geknüpfte Wahlrecht, aber auch um eine noch viel weiter gefasste Emanzipation. Gegen die Einrede, nichts zu sein, sollten die Unterdrückten sich im Zuge der Alphabetisierung in die Lage versetzen, die eigene Kultur zu entdecken und zu entwickeln. 

1974 beschreibt Paulo Freire den Grundgedanken in „Erziehung als Praxis der Freiheit“:

„Unser Ziel war es ein Projekt zu konzipieren, mit dem wir gleichzeitig mit dem Lesenlernen von der Naivität zu einer kritischen Bewusstseinshaltung gelangen konnten. Wir planten ein Alphabetisierungsprogramm, das eine Einführung in die kulturelle Demokratisierung darstellte, ein Programm mit Menschen als seinen Subjekten und nicht als geduldigen Rezipienten. Ein Programm also, das selber ein schöpferischer Akt war und daher andere schöpferische Akte anregen konnte, ein Programm, in welchem der Student die Ungeduld und die Lebhaftigkeit entwickeln konnte, die ein Zeichen des Forschungswillens und der Erfindungskraft sind. Wir begannen in der Überzeugung, daß es die Rolle des Menschen ist, nicht allein in der Welt zu sein, sondern sich in den Beziehungen mit der Welt zu engagieren; das heißt, daß der Mensch durch Akte der Schöpfung und Neuschöpfung die kulturelle Realität herstellt und dadurch die natürliche Welt, die er nicht gemacht hat, bereichert.“

Daraus können wir für die heutige Praxis viel schöpfen:Der Kampf um soziale Befreiung, Wohlstand und geistigen Fortschritt, Persönlichkeit und Würde – um die verbrieften, aber nicht eingelösten Menschenrechte – ist international!

Aktion „Sergio Moro ist nicht Willkommen!“ 22.03.2022

Ida Rockenbach und Joe Werner (AG Antifaschismus an der Uni Hamburg)

Warum die Rechten keine Lebensfreude haben

Liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten!

Der brasilianische, oder eher der globale Konservatismus, für den auch ein Sergio Moro steht, richtet sich gegen jede kulturelle und soziale Befreiung der Bevölkerung in Brasilien. In seiner Einheit mit dem Neoliberalismus und dem Evangelikalismus bildet er die Dreifaltigkeit von Unterdrückung des menschlichen Seins und der menschlichen Entfaltung:

Im Neoliberalismus hast du Erfolg, wenn du dich persönlich einfach nur genug anstrengst und leistest. Das heißt, wem es gut geht, ist dafür selber verantwortlich, wem es schlecht geht, hat selber Schuld und muss sich mehr anstrengen.

Im Evangelikalismus wirst du von Gott belohnt, wenn du brav bist, wenn du dich gut benimmst, höflich bist, keinen Alkohol trinkst und dich vollständig unterwirfst. Wenn du also reich bist, warst du brav und hast es dir verdient, wenn du arm bist, musst du einfach nur noch braver werden.

Im Rechtsradikalismus werden diese Unterschiede biologisiert, deine Leistung ist deine Geburt.

Diese heilige Einheit der absoluten Eigenverantwortung von Neoliberalismus, Evangelikalismus und Rechtsradikalismus soll seit jeher die Emanzipationsbewegungen auf der ganzen Welt aufhalten. Wer reich ist, habe es verdient, durch Arbeitsleistung, durch christliche Bravheitsleistung oder qua Geburt, alle seien vor allem erstmal selbstverantwortlich und jeder und jede seines oder ihres eigenen Glückes Schmied.

Wo gegen sich das richtet, hatte ja Lucas in seinem Redebeitrag ja schon gut begründet.

Auch oder eher grade in Deutschland haben wir mit der AfD und CDU/CSU die Kräfte, die vor allem eine herrschende Ordnung aufrechterhalten wollen (oder eher zu der Ordnung aus den 1950er zurückkehren wollen) die denen nutzt, die jetzt schon davon profitieren. Auch hier muss von den Reaktionären vor allem vertreten werden: So wie es ist (oder so wie es war) so soll es bleiben. Drum ist es kein Zufall, dass die AfD und Evangelikale ein unheiliges Bündnis bilden und AfD-Vertreterinnen die Regierung Bolsonaros freundschaftliche Besuche abstatteten.

Das klassische Familien- und Lebensbild, das hier wie da als Ideal gezeichnet wird, soll ausschließlich nach innen zeigen und sperrt das Außen aus. Ich stelle mir da eine ganz schreckliche Vorgarten-Idylle vor. Die Hecken sind exakt 1,90 hoch. Der Rasen adrett gemäht. Die Frau, natürlich Mutter, bleibt Zuhause und kümmert sich um Kind und Kegel, abends, wenn Vati nach Hause kommt, wird gemeinsam gegessen und am Abendbrottisch erzählt man von der Arbeit im Büro und von den Nachbarn. Die vermeintliche Ordnung der Familienidylle soll den Inhalt des Lebens bilden, fernab von wirklicher Lebensfreude oder Entfaltung der eigenen und kollektiven Persönlichkeit. Man hat und will sich nicht für die Welt interessieren, selbst wenn die Notwendigkeit für eine bessere Welt einzutreten, immer klarer hervortritt. Damit die Verhältnisse so bleiben wie sie sind, sollen wir brav, klein und bescheiden blieben – Entfaltung höherer Ansprüche ist gefährlich.

Wir sollen nicht auffallen, nicht aus der Reihe tanzen uns nicht in den Wind stellen und damit die eigene und die Ausbeutung aller akzeptieren. Das sollte uns doch zu denken geben?

In einem Korsett lässt sich kaum atmen, schwer zusammen singen, angeregt diskutieren oder über Witze herzhaft lachen! Ich finde: das gilt es abzulegen.

Die Befürwortung der Verantwortlichkeit für die Geschicke der Menschheit jedes einzelnen ist die Widerlegung des Eigenverantwortung, die uns seitens der AfD und der Evangelikalen gepredigt wird. Das ist was die Befreiung von Faschismus und Weltkrieg hervorgebracht hat, was in den 68ern und den Anti-Vietnamkrieg Protesten z.T. zur Entfaltung gebracht wurde und was wir heute umso mehr befürworten und entfalten wollen. Weil wir als Menschheit im positiven Sinne voneinander abhängig sind und weil wir diese Abhängigkeit im positiven Sinne gestalten können.

In diesem Sinne wollen wir schließen mit einem Zitat von Bertolt Brecht aus dem Jahr 1954:

„Der Satz: Das Ziel eines Menschen ist, sich zu vergnügen ist deshalb schlecht, weil er dem guten Satz: Das Ziel der Menschheit ist, sich zu vergnügen ins Gesicht schlägt.“